Antenne Bayern - Nachgedacht: Mai 2019


Montag, 20. Mai 2019

Das Fahrrad

Ein Obdachloser liest in einer Zeitung einen Artikel über Migräne.

„Haben Sie Migräne?“, spricht ihn ein Mann in feinem Anzug an.

„Ja, manchmal.“

„Haben Sie Medikamente?“

„Nein. Das geht irgendwann von alleine weg. Vor allem wenn …“

Der Obdachlose verstummt.

„Wenn was?“, hakt der Mann nach.

„Früher ging das weg, wenn ich Fahrrad gefahren bin.“

„Und warum tun Sie das nicht mehr?“, fragt der Mann.

„Weil man es mir gestohlen hat.“

Kurze Pause, dann sagt der Mann mit Anzug: „Kommen Sie mal mit!“

Der Mann arbeitet in einem Büro ganz in der Nähe. Er führt den Obdachlosen in die Tiefgarage des Gebäudes. Dort zeigt er ihm ein Fahrrad. Nicht mehr neu, das Licht geht nicht, auch sonst ist einiges kaputt.

„Das ist mein Rad. Ich wollte mir irgendwann ein neues kaufen. Darf ich Ihnen das schenken?“

Für den Obdachlosen ist das wie Weihnachten und Ostern an einem Tag. Er bestaunt das Fahrrad, überlegt sich, was er dran basteln kann.

Zwei Wochen später sieht der Mann mit Anzug den Obdachlosen mit seinem Fahrrad zufällig wieder.

„Na, was macht die Migräne?“, fragt er ihn.

„Alles gut“, sagt der Obdachlose und fährt mit seinem Fahrrad davon.

 

Und morgen ist ein neuer Tag

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion

 

Dienstag, 21. Mai 2019

Schenken

Meine Eltern haben ein kleines Geschäft in einem Dorf. Es ist Konfirmation. Meine Eltern haben für jeden Konfirmanden, jede Konfirmandin ein kleines Geschenk. Meine Aufgabe ist es, die Geschenke in die jeweiligen Häuser zu bringen.

Ich klingele an den Häusern der Konfirmanden. „Warte, ich hol dir schnell was“, sagen die meisten Eltern. Und wenig später habe ich eine Tafel Schokolade in der Hand. Als Dank dafür, dass ich ein Geschenk gebracht habe. Am Ende meiner Tour habe ich reiche Beute gemacht. Zwanzig, dreißig Tafeln sind es jedes Jahr.

Das ist jetzt schon vierzig Jahre her. Aber oft denke ich an diese Geschenketouren. Ich bringe ein Geschenk. Und ich gehe mit einem Geschenk. Und beide Seiten freuen sich.

Schenken ist so was Schönes. Auch außerhalb von Anlässen wie der Konfirmation. Wenn es unerwartet kommt, ist es noch schöner. Einfach mal so schenken. Ohne Berechnung. Ohne Hintergedanken. Die großen Augen des Empfängers, der Empfängerin. Was für ein Glück!

Beschenkt werden ist schön. Aber schenken ist oftmals noch schöner.

 

Und morgen ist ein neuer Tag

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion

 

Mittwoch,  22. Mai 2019

Der Tee-Walter

Seine Schwester schenkt Walter einen Kuchen. Er geht mit dem warmen Kuchen in der Tasche nach Hause. Auf dem Weg sieht er zwei Bettler am Boden sitzen. Sie schauen verschämt von unten hoch. Er spürt, wie sich sein Herz rührt. Er zerteilt den Kuchen und gibt jedem eine Hälfte.

„Danke, danke“, sagen sie immer wieder. Ihre Augen leuchten. Er sieht in diesem Leuchten irgendwie Gott.

Das Erlebnis verändert Walters Leben. Er gründet einen Verein. Für Menschen, die auf der Straße leben.

„Wir müssen die Orte der Obdachlosen anfahren. Sie vor Ort versorgen“, sagt er.

Jeden Tag fährt seitdem ein Bus Lebensmittel und Tee für Obdachlose in München aus. Seit mehr als dreißig Jahren. Organisiert von einem Team um den Tee-Walter, wie ihn die Obdachlosen liebevoll nennen.

Mir hat Walter mit seiner Art zeitweise wieder meinen Kinderglauben beschert: Gott ist ein gütiger Mensch mit langem weißem Bart. Einen langen weißen Bart hatte der Tee-Walter. Und gütig war er allemal.

Vor kurzem ist der Tee-Walter gestorben. Sein Werk lebt weiter.

 

Und morgen ist ein neuer Tag

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion

 

Donnerstag, 23. Mai 2019

Das Vaterunser

Lena, ein neunjähriges Mädchen, geht von der Schule nach Hause. Sie begegnet einem Mann, den sie gut kennt.

„Grüß Gott, Herr Pfarrer.“

„Grüß dich, Lena, war’s gut in der Schule heute?“

„Ja, Herr Pfarrer. Ach ja, und danke.“

„Danke wofür?“, fragt der Pfarrer.

„Dafür, dass wir bei ihnen zuletzt das Vaterunser gelernt haben.“

Der Pfarrer stutzt. „Ja, gerne, aber wieso bist du dafür dankbar?“

„Na, ich war letztens auf einer Beerdigung. Da war irgendein Verwandter gestorben, den ich gar nicht gekannt habe.“

„So, so“, sagt der Pfarrer.

„Ja, Herr Pfarrer, das Vaterunser, das habe ich bei der Gelegenheit schon ganz gut gebrauchen können.“

Sagt’s und geht davon, die Lena. Und sie hat Recht. Manchmal kann man Beten richtig gut gebrauchen.

 

Und morgen ist ein neuer Tag

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion

 

Sonntag,  26. Mai 2019

Prioritäten

 Gottesdienst in einer evangelischen Kirche in München. Ich vertrete meinen Pfarrerkollegen. Eine Stunde vorher komme ich in die Kirche. Und in der Kirche sind ganz viele Dreizehn- und Vierzehnjährige.

„Toll“, sage ich zum Mesner, „dass die alle zum Gottesdienst kommen.“

„Nein, nein“, sagt er, „die gehen gleich. Es war Konfirmandennacht. Die haben in der Kirche geschlafen.“

Um zehn geht der Gottesdienst los. In den ersten Reihen sitzen sechzig Konfirmandinnen und Konfirmanden. Die meisten haben nur ein, zwei oder drei Stunden geschlafen. Aber sie bleiben bis zum Ende des Gottesdienstes. Und keiner schläft ein.

„Habe ich mich getäuscht“, sagt der Mesner danach.

„Ja, zum Glück“, sage ich.

Ich denke an die Demonstrationen der Schülerinnen und Schüler freitags während der Schulzeit für den Klimaschutz.

„Die schwänzen doch nur die Schule“, sagen manche Kritiker.

Ich glaube, auch sie unterschätzen die jungen Menschen. Die nehmen sogar sonntags nach einer durchwachten Nacht am Gottesdienst teil. Freiwillig. Sie tun das, was sie für wichtig halten.

 

Und morgen ist ein neuer Tag

Felix Leibrock, Evangelische Redaktion